Über Flucht und das Zuhause-Gefühl
Der Journalist und Autor Daniel Schreiber hat vor vier Jahren ein Buch veröffentlicht, das vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges aktueller ist denn je: Zuhause. Im Philosophie Magazin gab es deshalb kürzlich ein Interview mit dem Autor, in dem er interessante Antworten rund um die Begriffe „Heimat“, „Zuhause“, „Flucht“ und „Heimweh“ lieferte. Die wichtigsten Aspekte haben wir einmal für Sie zusammengefasst.
Zahlen zur Migration
Seit der russischen Invasion in die Ukraine sind Millionen Menschen auf der Flucht. Zwischen Ende Februar und dem 16. Juli 2022 wurden allein in Deutschland über 900.000 Personen aus der Ukraine im Ausländerzentralregister (AZR) registriert. Einige Geflüchtete könnten bereits weiter- beziehungsweise zurück in die Ukraine gereist sein. Was die weltweite Migration betrifft, bilden die Geflüchteten aus der Ukraine nur einen Bruchteil: Laut den Vereinten Nationen (UN) gab es 2019 weltweit rund 272 Millionen Migrant*innen, von denen die meisten aus Indien, Mexiko und China kommen.
Zuhause "to go"
Gründe für Migration gibt es unterschiedliche. Daniel Schreiber führt im Interview mit dem Philosophie Magazin die folgenden an: Kriege, Hungersnöte, die politischen Umstände, ein Berufswechsel – aber auch erfreulichere Ursachen wie die Beziehung zu geliebten Menschen können uns dazu bewegen, den Ort, an dem wir aufgewachsen sind, zu verlassen. Zwar können wir unser Zuhause mit allem, was dazu gehört, nicht mitnehmen, wie eine Schnecke es tut. Aber die gute Nachricht ist, dass wir unser Zuhause an verschiedenen Orten (wieder-)aufbauen können. Denn das Zuhause ist nicht nur ein bestimmter Ort, hat also nicht nur einen äußeren, materialistischen Aspekt, sondern ist auch ein Gefühl, das wir im Inneren empfinden und mitnehmen oder neu entwickeln können.
Der Heimatbegriff
Schreiber hat den Titel seines Buchs sorgfältig gewählt: Zuhause – nicht Heimat. Denn dem Heimatbegriff steht er aufgrund dessen Kulturgeschichte kritisch gegenüber. Entstanden sei er in der Zeit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Landflucht. Rückblickend wurde das alte, zurückgelassene Leben auf dem Land verklärt. Allerdings handele es sich bei dieser Heimat um einen „irrealen Sehnsuchtsort, ein emotionales Gemenge“ und keinen realen Ort. Angesichts der Migrationskrisen weltweit habe der Begriff Heimat jedoch wieder an Aktualität gewonnen.
Nostalgie kommt (erst) nach der Flucht
Es sei vollkommen menschlich, dass eine Flucht auch nostalgische Erinnerungen an den zurückgelassenen Ort auslöse. Oft flamme diese Sehnsucht (auch als "Heimweih" bekannt) nicht unmittelbar auf. Schreiber hat vielmehr beobachtet, dass diese Auseinandersetzung mit dem Verlust später stattfinde, wenn das Überleben gesichert ist. Zunächst müsse man aus der Gefahrenzone kommen und sich eine neue Existenz aufbauen.
Kontinuitätsbruch in der Biografie
Flüchtende lassen alles zurück: verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen, Berufe und Hobbys. Der Verlust eines realen Ortes und allem, was damit einhergeht (ob man es nun als Heimat oder Zuhause bezeichnet), stelle ein traumatisches Erlebnis dar. Oft werde die Flucht verheimlicht, der Kontinuitätsbruch in der eigenen Biografie tabuisiert. Gerade bei den geflüchteten Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg war dieses Phänomen zu beobachten. Trotz der teilweisen großen Solidarität werden Geflüchtete nicht immer mit offenen Armen empfangen. Diese Ausgrenzung führt zum Gefühl von Einsamkeit, das die Aufgabe, sich „ein neues Leben, eine neue Identität, ein neues Zuhause, einen neuen Ort" zum Leben aufzubauen, weiter erschwert. Diese psychische Last ist für Menschen, die nicht flüchten müssen, kaum nachzuvollziehen.
Sprache & Integration
Das Erlernen einer neuen Sprache bringt meist ein neues Weltverständnis mit sich. Diesen schönen Aspekt erfahren Menschen in aller Regel nicht, wenn sie sich nicht aus freien Stücken einer fremden Sprache (und Welt) annähern, sondern aufgrund widriger Gegebenheiten dazu gezwungen sind. Deswegen propagiert Schreiber, Verständnis dafür zu haben, wenn Menschen erstmal nicht die Sprache des neuen Ortes lernen möchten - auch wenn es das Ankommen und die Integration für Geflüchtete erleichtern könnte.
Offenheit gegenüber Geflüchteten
Wie können wir Geflüchteten helfen, ein neues "Zuhause-Gefühl" zu bekommen? Hier wird Schreiber konkret: Wir sollten die Menschen in unser soziales Leben einbinden und ihnen mit Offenheit begegnen. Dabei gelte es auch, bei sich selbst fremdenfeindliche Denkmuster zu überprüfen. Denn:
„Die meisten Menschen haben nicht ausgesucht, aus einem Land zu fliehen; hätten die Menschen die Wahl gehabt, nicht zu fliehen und in ihrem Land in Frieden und unter lebbaren Bedingungen zu leben, dann hätten sie das getan.“
Hinweis zum Schluss
Zum Abschluss des Gesprächs hat der Autor und Journalist auch noch einen Hinweis, den wir alle beherzigen sollten: Zuhause liegt nicht in der Zukunft, sondern im Jetzt. Wir müssen unbedingt aufhören, ein provisorisches Leben zu führen, um unser eigentliches Leben nicht zu verpassen.
Bildquelle Beitragsbild: © Lana Sham/shutterstock.com