Pilgern: Die diesjährige Tour – und grundsätzliche Gedanken
„Wann hast Du zum letzten Mal etwas zum ersten Mal getan?“
Die Artikel zu den Pilgertouren mit unseren Auszubildenden klingen meist ähnlich, da sich die Touren selten in ihrem Ablauf ändern. Es sind 100 Kilometer in 5 Tagen. Nur die Gesichter sind andere. Deshalb erzähle ich – als Pilgerführerin – mal von meiner Perspektive bei dieser Tour und den Grund, warum es solche außergewöhnlichen Projekte bei uns gibt.
Das Vorbild: Projekt "Arbeitsweg“
2014 habe ich Kontakt zu Sven Enger in Dresden aufgenommen, der das Projekt „Zwischen den Zeiten“- Kriminalprävention mit jungen Volljährigen - Projekt "Arbeitsweg“ über die „Sächsische Jugendstiftung“ leitete. Durch den Pilgerweg konnten sie 60 Stunden ihrer Auflagen ableisten und gleichzeitig im Rahmen dieses speziellen Trainingskurses an ihrer Lebenskompetenz arbeiten.
Mein Beweggrund, mit Herrn Enger Kontakt aufzunehmen, waren die fehlenden Kompetenzen im personellen Bereich, die den Ausbildungsalltag bei uns extrem beeinflussten. Dazu gehörten: wenig Verantwortungsbewusstsein, fehlende Ich-Stärke, Zuverlässigkeit und Durchhaltevermögen bei den jungen Menschen.
Nach einigen Gesprächen und Planungen konnte es 2015 für die ersten Auszubildenden losgehen. Bis 2019 unterstützte und begleitete uns Herr Enger und sein Team. Seit 2020 führen wir diese Touren allein durch. Ich habe mich selber erst mit diesem Kontakt 2014 zu Sven Enger mit dem Thema Pilgern beschäftigt. Mittlerweile habe ich persönlich auf meinem Weg in diesem Jahr mein großes Ziel Santiago de Compostela in Spanien erreicht.
Pilgertour August 2023
Zurück zu unserer Tour mit den Fachlageristen, die sich am Ende ihres 2. Lehrjahres befanden.
Die Ausbildungsgruppe ist eine sehr charakterstarke Zusammensetzung und hat auch mich in meiner Vorbereitung ziemlich beschäftigt. Wie diese fünf Tage ablaufen, hängt immer sehr stark davon ab, inwieweit sich die Jugendlichen auf dieses Abenteuer einlassen. Zur Vorbereitung gehört ein ausführliches Gespräch, in dem ich den Ablauf beschreibe und die Jugendlichen Fragen stellen können. Typische Fragen lauten: „Wo schlafen wir? Gibt es Steckdosen? Was machen wir den ganzen Tag – nur Laufen? Können wir zwischendurch mit dem Bus fahren?“ Nachdem alle Fragen ausführlich beantwortet waren und noch diverse Outdoor-Utensilien wie Rucksack, Schlafsack und Poncho zum Ausleihen verteilt wurden, konnte die Tour starten. Ziel war es, von Bautzen nach Lampertswalde zu laufen.
Der typische Pilgertag
Ein typischer Pilgertag mit Jugendlichen sieht in ungefähr so aus: Wecken zwischen 6:30 und 7 Uhr. Das sprechen wir natürlich am Abend vorher ab. Meist bin ich dann schon frisch und fröhlich und wecke die Jugendlichen mit „toller“ Musik („Guten Morgen, liebe Sorgen“ von Jürgen von der Lippe oder „Guten Morgen, Sonnenschein“ von Nana Mouskouri). Ich muss dann oft in Deckung gehen, damit ich keine fliegenden Gegenstände abbekomme. Dann bereite ich das Frühstück vor und die Jugendlichen packen ihren Rucksack, während sie lautstark über Muskelkater, Schmerzen und „kein Bock“ reden, und spätestens zwischen 8 und 8:30 Uhr geht es los.
Die 20 bis 25 Kilometer zur nächsten Herberge sind für mich ein stetiges Auf und Ab. Ständige Motivation und gutes Zureden stehen dann auf der Tagesordnung. Die ersten zwei Tage sind am Schlimmsten. Die Frage „Warum und Wozu?“ kommt dann sehr oft. Bei dieser Tour war es sehr heiß und das große Ziel der Jungs war immer: Baden. Es wurde also permanent geschaut, wo es das kühle Nass denn geben könnte. Tatsächlich haben sie fast jeden Tag die Chance genutzt, auch wenn es am Ende des Tages mehr Kilometer bedeutete.
Damit abends etwas zum Essen auf dem Tisch steht, muss auch zwischendurch eingekauft werden. In Kamenz haben sich die Jungs noch mit einigen anderen Sachen eingedeckt und trugen dann tatsächlich den schweren Aldi-Beutel den Hutberg hoch. Bei solchen Aktionen sehe ich immer, dass auch scheinbar Unmögliches machbar ist.
Angekommen sind wir immer zwischen 16 und 17 Uhr. Dann heißt es: duschen, die Klamotten waschen oder zumindest zum Lüften raushängen und Essen kochen. Da es ja in den Herbergen keine Fernseher gibt und auch oftmals kein Empfang fürs Handy, müssen sich andere Beschäftigungen gesucht werden. Von Gesellschaftsspielen bis Lagerfeuer ist alles dabei. Am vierten Tag zeigte sich dann auch, was das Laufen bei den Jugendlichen bewirkt. Am Lagerfeuer gab es sehr offene und persönliche Themen und es war auch kein Stress mehr zu spüren. Das Vertrauen war da, dass dieser Weg doch irgendwie Sinn macht.
Die spirituelle Seite des Pilgerns
Oft kommt die Frage, wie es mit der religiösen Seite beim Pilgern aussieht. Ein*e Pilger*in kommt an diesem Thema nicht vorbei – aber jeder nimmt das für sich mit, was er braucht. In jedem Ort läuft der Jakobsweg an einer Kirche vorbei. Meist gibt es in den Kirchen auch einen Stempel für den Pilgerausweis. Ich biete den Jugendlichen den Besuch der Kirche immer an, was auch meist angenommen wird.
Das Ziel erreicht
Ich bin mit vier Jungs gestartet und nach 100 Kilometern mit vier Jungs wieder angekommen – kaputt, aber doch sehr stolz. Es gibt nach der Tour für alle eine Urkunde und, um den Weg noch einmal Revue passieren zu lassen, gestalten wir ein Plakat mit den schönsten Momenten.
Ein erfolgreiches Konzept
Das Pilger-Projekt war ein Versuch, Kompetenzen zu fördern, die für die Ausbildung und vor allem für einen erfolgreichen Abschluss wichtig sind. Mittlerweile ist es für uns kein Versuch mehr. Es ist ein sehr erfolgreiches Konzept und zeigt in der Statistik seit 2015, dass zu 99% alle Auszubildenden, die mit mir den Weg gegangen sind, die Ausbildung durchhalten und ihre Prüfung bestehen.
Unsere größte Sonderpilgertour für drei Auszubildende, die besonders viel Motivation und Enthusiasmus gezeigt haben, ging für drei Wochen auf den Olavsweg nach Norwegen. Ein sehr außergewöhnliches Abenteuer, was alle Beteiligten nicht vergessen werden.
Genau deshalb werden wir auch in den nächsten Jahren mit den Jugendlichen auf den Pilgerweg gehen und ihnen zeigen, was es heißt, die Komfortzone zu verlassen und über den Tellerrand zu schauen.
Text: Silvana Niemz